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Zeitreise in die 50er und früher
Fotos: Marco Stepniak

Zeitreise in die 50er und früher

Lesedauer: ca. 4 Min. | Text: Sabine Raupach-Strohmann

Zwei Sammler – zwei Museen: Wie wohnte man im Wirtschaftswunder? Wie entwickelten sich Radio, Grammophon und Fernseher?

Beide tragen eine Schiebermütze, sammeln seit dem elften Lebensjahr und leben Ihren Traum in ihrem jeweiligen privaten Museum. Und weil Freunde, Familie und Bekannte
beim Besuch in ihren vier Wänden aus dem Staunen nicht herauskommen, öffnen sie die Türen auch regelmäßig für Besucher. Führungen können über die VHS Datteln gebucht werden.

50er Jahre Wohnkultur wie anno Dazumal

Wer am alten Zechenhaus an der Kolonialstraße 1a klingelt, wird mit Gebell begrüßt. Hinter der Tür zum „50er Jahre Museum“ erwarte ich automatisch den Lieblingshund des Wirtschaftswunders – einen Dackel. Stimmt nicht ganz, es ist Mops Tilda - aber die Größe stimmt zumindest. Dafür entspricht Hausherr Kevin Nikodem, der in seinem Museum lebt, mit weißem Hemd, Hosenträgern, Lederschuhen und Schiebermütze ganz meiner Vorstellung vom jungen Mann der 50er. Und sein Haus – zurücksaniert, eingerichtet und dekoriert mit ganz viel Liebe zum Detail mit den Errungenschaften des Wirtschaftswunders - übertrifft alle Erwartungen: meine und auch die der Besucher. Die bleiben schon voller Begeiste rung am Opel Olympia Rekord P1 von 1958 in der Einfahrt hängen – selbst restauriert, aufpoliert und mit dem letzten technischen Schrei seiner Zeit ausgestattet: einem Single- Plattenspieler. „Es ist hier ja wie bei Tante Hetti. Das Kaffee-Service hatten wir auch!“

Gerade die älteren Besucher geraten in Verzückung. Und auch die jungen Gäste haben ihren Spaß an der spannenden Reise zurück in den Alltag der Wirtschaftswunderjahre in Deutschland, wenn man ihn sich so leisten konnte. Von der Diele mit Miele-Staubsauger auf Kufen, über die Waschküche mit einer Miele-Waschmaschine von 1959, über das Bad mit der Toilette mit schwarzem Sitz und Druckspüler, die pastellfarbene Küche, das Wohnzimmer mit Paradekissen und Häkeldeckchen bis zum Schlafzimmer mit Eichenbett und Frisierkommode ist alles nicht nur im Stil, sondern mit Originalmöbeln, Gardinen, Tischdecken, Uhren, Teppichen, Gebrauchsgegenständen und Geräten aus den 50er Jahren bestückt. „Alles im Haus ist voll funktionsfähig und im Alltagsbetrieb“.

Bei seinen Führungen – zwei Stunden ohne und drei Stunden mit festlicher Konfirmationstafel und Kaffee aus dem Wigomat patentiert 1954 – empfängt der Elektroniker seine Gäste mit alten Schlagern aus der Musikbox. Auf der SABA-Luxusmusiktruhe von 1959 mit Plattenspieler, Radio und Fernseher flimmert schwarz-weiß Heinz Erhards „Witwer mit fünf Töchtern“ von 1957. „Adapter machen`s möglich“, schmunzelt der 30-Jährige mit Blick auf das alte Siemens-Radio, das auch WDR 2 kann. Einen aktuellen Flachbildschirm sucht man zwischen Philipps-Plattenspieler, Tonbandkoffer von Grundig, der Stereo Fidelity Pilot Kompaktanlage aus den USA allerdings vergebens. „Ich habe einfach keine Zeit für Fernsehen. Ich höre lieber meine 40.000 Schallplatten von früher.“

Zum Glück hat das Haus einen Dachboden – dort wird alles Notwendige aus der Neuzeit wie Computer und Lauf-Sneaker während einer Führung verstaut. „Mein Motto ist: Leben in der modernen Zeit mit Dingen von früher!“ 2017 hat Kevin Nikodem das alte Zechenhaus von 1910 in der Beisenkamp-Siedlung direkt neben dem Haus der Großeltern gekauft und 2019 und 2020 in ganz viel Eigenarbeit in die 50er zurücksaniert. Die Leidenschaft für die Zeit wächst schon lange in ihm: Mit 13 war sein Kinderzimmer ein komplettes Wohnzimmer aus den 50ern, mit 18 seine erste Wohnung ganz im Stil des Wirtschaftswunders eingerichtet. Eine alte Musiktruhe der Oma, die er als Elfjähriger reparierte, und eine Freddy Quinn- Schallplatte hatten die ungehemmte Sammelleidenschaft der 50er Jahre-Dinge ausgelöst. „Es hatte sich schnell rumgesprochen, immer kamen Leute und brachten was zum Reparieren oder Loswerden.“

Seit sein Haus 2020 die Weihnachtsgeschichte in der Dattelner Lokalpresse war mit Tannenbaum, echten Kerzen und ganz viel Lametta, kann sich Kevin Nikodem vor Medien- und Besucheranfragen kaum retten. 86 Beiträge in Presse, Funk und Fernsehen, drei Führungen pro Woche in Kooperation mit der VHS, 100 Besucher pro Monat – neben seiner Vollzeit-Berufstätigkeit eine echte Herausforderung. Aber es macht ihm Spaß. Deshalb hat er jede Menge Event- Pläne für sein Heim: Cocktail-Partys, Peter Alexander-Filmabende…Und einen Wunsch für sein Museum, da er wenig Zeit hat: ein Nirosta- Besteck aus den 50ern. „Das Silber muss man so viel putzen“.

 

Als Radio und Fernsehen „laufen“ lernten Rainer Berkenhoff sammelt seit seinem elften Lebensjahr – eifrig und vielseitig. Unter anderem Radios, Fernseher, Grammophone - für die Generation „Alexa“ die Dinosaurier der Rundfunk- und Unterhaltungstechnologie. Viele durften die Schätze aus aller Herren Länder und Jahrzehnten in seinem Privatmuseum schon bewundern, den Anekdoten des Sammlers lauschen. Auch Filmgesellschaften bedienen sich immer wieder gerne für historische Produktionen bei Rainer Berkenhoff. „Bei mir werden sie immer fündig“. Jetzt aber kann jeder das Radio und Fernsehmuseum Datteln besuchen und Führungen buchen – dank einer Kooperation mit der VHS.

200 Fernsehgeräte von 1936 bis 1974 aus Europa und den USA, 450 Radios von 1923 bis 1972 und 90 Plattenspieler und Grammophone von 1890 bis 1974 füllen zwei Ausstellungsräume vom Fußboden bis zur Decke. Darunter sind Raritäten wie der erste Polyphon Blechplattenspieler von 1890, Edisons Phonograph von 1898, der erste Philips-Farbfernseher von 1967 und der erste Kassettenrekorder von 1967. So beeindruckend die Fülle wie die einzelnen Exponate sind, erst die Geschichten, die Rainer Berkenhoff zu jedem einzelnen Teil erzählt, erwecken sie zum Leben.

Da ist zum Beispiel Claudia, die DDR-Fernsehtruhe von 1955, die sich nur Mitglieder des Politbüros leisten konnten. Er hat sie, wie alle seine defekten Sammel-Stücke, komplett restauriert, den Stoff eigens in Holland weben lassen. „80 Prozent meiner Geräte funktionieren“, erzählt der Rentner stolz und legt eine Original-Schellack-Platte von 1956 auf: „Auferstanden aus Ruinen“ erklingt die DDR-Hymne. Auf dem Odeon Grammophon von 1923 ertönt die Originalaufnahme des damaligen Reichspräsidenten Hindenburg aus dem Jahr 1932. 1973 erwachte in ihm eine Sammelleidenschaft, die bis heute anhält und ihn weiterhin auf Flohmärkten und Börsen umtreibt. „Vom Sperrmüll zum Kulturgut“, schmunzelt der „Museumsdirektor“.

Es geht ihm aber nicht mehr um Neues „dafür habe ich keinen Platz mehr“, sondern um Ersatzteile für die Reparaturen. Nachdem sich schnell rumsprach, dass und was er sammelt, wurden ihm Sachen einfach vor die Tür gestellt. „Ich habe in der ganzen Welt gesammelt!“ Nach der Wende verbrachte Rainer Berkenhoff „Sperrmüll-Urlaube“ im Harz mit enormer Ausbeute für seine Sammlung, die die Gäste auch schon im Treppenaufgang begrüßt – ein Radio- und Fernsehmuseum für Augen und Ohren. Wer vorher „reinschnuppern“ will, kann dies tun auf „Neues von Rainer“ seinem eigenen YouTube-Kanal „Radio Rainer“.

Info
50er-Jahre-Museum

Kolonialstraße 1a
45711 Datteln

Privates Radio- und Fernsehmuseum

Castroper Straße 396
45711 Datteln

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